Freitag, 31. Dezember 2010

Saint-Sylvestre – oder Réveillion


Der letzte Tag dieses Jahres beginnt mit einem Lauf am Strand. Die Dame mit ihren beiden Hunden, dem Schwarzen und dem Husky, steht auf unserer Strecke. Zum ersten Mal sprechen wir Menschen miteinander. Ich stelle fest, sie hat einen Akzent, der mir irgendwie unbekannt ist und den ich auch nur schwer verstehen kann. Im Nachhinein denke ich, das war kein regionaler französischer Akzent, es könnte einfach ein fremdsprachiger sein. Irgendwie trifft sich im Seniorenalter einiges in diesen Gegenden, in denen man sich nach der Arbeitszeit gerne niederlässt. Nicht nur die Erben der Fischerhäuser, die nach einem Arbeitsleben in Paris und anderen Städten in die Heimat zurückkehren, um den Lebensabend hier zu verbringen, auch andere, die ein reiches und interessantes Arbeitsleben hinter sich lassen und genügend Geld übrig haben, lassen sich gerne an der Küste nieder, mit dem Resultat, dass hier in der Vendée sicher wie in der Bretagne sich ein großflächiges Altersheim entwickelt, denn die Jungen gehen zum Arbeiten in die Städte, sofern sie nicht im Tourismus beschäftigt sein können – was aber vermutlich größtenteils auch nur Saisonarbeit ist. Das Geld, das man erwirtschaften muss, um im Alter hier in der Gegend ein angenehmes Leben zu verbringen, verdient man sicher nur in einer Stadt.
Oh - jetzt muss ich stramm stehen, jetzt quatscht Sarko... Mes chers compatriotes - da meint er schon einmal sicher nicht mich damit. Pünktlich um 20 Uhr hat er angefangen, auf allen Kanälen. Ich vermute, danach beginnt das Große Fressen – Réveillon.
Und genau jetzt ist das Internet ausgefallen.
Ich beschließe nach dem Morgenlauf, dass heute kein Tag für längere Ausflüge ist, und fahre nur nachmittags zum Plastik- und Flaschenmüll, um die Halde unter dem Küchenbord zu leeren. Da ich schon im Auto sitze, fahre ich noch ein Stück Richtung Wald, laufe dann aber an einem Strand entlang und stürze beinahe einen Felsen hinunter, den ich eigentlich runterklettern wollte. Wäre ein netter Jahresabschluss gewesen. Ian Rankin im Ohr ist ein guter Begleiter bei diesem sandigen Spaziergang. Wir fahren aber bald wieder zurück ins Warme. Ich amüsiere mich ein weiteres Mal über die großen Mehrgenerationengruppen, die wie schwarze Wolken zwischen den weißen Häuschen herumstoben. Es ist teilweise ganz schön kritisch, hier Auto zu fahren, denn kleine Kinder springen kreuz und quer über die Straße – und auch wenn sie dann auf einer Seite stehen bleiben, traue ich ihnen zu, dass sie mir rein provokativ vor die Räder hüpfen.
Jugendliche laufen in großen Gruppen auf der Straße und denken nicht daran, für ein Auto aus dem Weg zu gehen. Ich fahre lange Zeit hinter ein paar Mädchen her. Sie wissen sehr wohl, dass da ein Auto hinter ihnen ist, aber es sind Jugendliche, und die müssen nicht aus dem Weg gehen, für sie existiert keine Welt außer ihrer. Ich tue ihnen nicht den Gefallen zu hupen, sondern rolle im Schritttempo hinter ihnen her. Ein Mädchen blickt sorgenvoll über ihre Schulter und löst sich aus der Reihe, um zur Seite zu gehen. Offensichtlich hat sie doch etwas Angst. Ihre Freundin läuft mit wiegenden Hüften nun alleine mitten in der Straße weiter, ohne auch nur einen Blick zurück zu werfen. Sie wird niemandem aus dem Weg gehen. Niemals!
Vive la France! Oh – er ist fertig. Mal sehen, ob das Internet wieder kommt.
Als ich das Auto in Barbâtre vor dem Häuschen abstelle, kommt die Vermieterin zu mir her. Sie fragt, ob auch alles in Ordnung sein – klar ist es das. Kein guter Zeitpunkt, ihr zu erklären, wie schwach der Internetzugang ist. Und wie sehr mich das nervt.
Sie erzählt mir, dass die Leute im anderen kleinen Haus, die ich noch nicht gesehen habe, morgen abreisen. Schön. Und dass ich ja wohl die Waschmaschine verwendet habe. Habe ich. Sie hätte das Wasser nun abgestellt. Ok – brauche sie nicht mehr.
Ob ich ganz alleine feiern wollte heute Nacht?  - „C'est ce que je veux“ – Das ist das, was ich will. Unfassbar in einer Gesellschaft, in der Silvester ein Réveillon ist – Weihnachten und Silvester wird „réveillon“ genannt – ein langes, langes Essen, Weihnachten in Familie, Silvester unter Freunden – aber Essen, Essen, essen. Die Nachrichten sind seit Tagen voll davon. Meeresfrüchte, Austern hauptsächlich, aber auch Langusten, Hummer, Krabben, Coquilles St. Jacques, die Stände auf dem Bildschirm lassen einem das Wasser im Mund zusammenlaufen. Und natürlich der Deutschen liebstes Hassthema: Foies gras – Enten- und Gänseleber. Pasteten, ganze Lebern, vielfältige Rezepte und Tipps. Hier auf der Insel noch eine zweite Delikatesse, die Deutsche erschauern lässt: Froschschenkel. Ich kann selbst nicht glauben, dass ich sie nun auch ungekocht gesehen habe. Kapieren die nie was? Die angebotenen im Super-U kamen aus der Türkei. Ich bin überzeugt, auch da wurde der Frosch nicht erst getötet, bevor ihm die Beine abgerissen wurden. Froschschenkel habe ich aber wirklich nur hier und im Elsass noch gesehen, in Restfrankreich sind sie mir mal mindestens nicht aufgefallen. Foie gras dagegen gibt es überall. Ich vermute, es gibt kein Réveillon, auf dem es keine Austern und keine Fettleber zu essen gibt. Außer natürlich bei mir – bei mir gibt es einen kleinen Teller Fischsuppe und danach Tagliatelle mit Champignons und Tomaten und etwas Käse. Aber ich gönne mir ein Glas Rotwein – der seltsam schmeckt nach all den Husten- und Schnupfenmitteln. Ich denke, ich gehe bald ins Bett und lasse die anderen weiter das große Jahreswechselfressen feiern. Réveillon. Saint Sylvestre. Was der wohl dazu zu sagen hätte?

Donnerstag, 30. Dezember 2010

Zwischen den Jahren Tag 4


Wenn man krank ist, soll man Hühnersuppe essen, weil Zink drin ist und das gut für das Immunsystem ist. Wenn man aber keine Hühnersuppe hat, isst man halt, weil man ja am Meer ist, Fischsuppe – solche, die man in Flaschen kaufen kann, und die sogar auf der Insel hergestellt ist. Letztendlich fällt das auch gar nicht auf, denn bei Schnupfen schmeckt ohnehin alles gleich. Ob das nun Hühner- oder Fischsuppe ist, ist damit unwesentlich. Statt Zink ist eben ein bisschen Blei und andere schöne Schwermetalle drin, was soll’s, hilft sicher auch. Die Fischsuppe wird bekanntlich mit Croutons (Brotwürfeln in Fett gebraten), Rouille (Soße auf Mayonaisenbasis in Rosa) und geriebenem Käse gegessen – ist recht gehaltvoll dafür, dass es als Vorspeise gilt, ist aber netterweise nur bedingt Kalorienreich – wenn man mit diesen leckeren Zutaten vorsichtig umgeht. Heiß und scharf ist sie, das hat in jedem Fall geholfen.
Heute war der zweite Besuch in einer Apotheke, denn nach der Bronchitis kam nun der Schnupfen dazu. Dieses Mal in Noirmoutier-City, was nicht ganz einfach war, denn ich musste außerhalb parken und dann ins Städchen hinein gehen, aber das grüne Kreuz zeigte mir auch dieses Mal den Weg. Aus irgendeinem Grund war in diese Stadt ein Chaos mit Autos und Fußgängern, Generationengruppen, die mitten auf der Straße gingen, es war unfassbar.
Ich frage nach etwas für die „Blockade de la nez“, lerne zum Hundertsten Mal, dass das z hinten nicht gesprochen wird und Blockade nennt man das, was in der Nase stattfindet, auch nicht, außerdem ist die französische Nase männlich, was sicher mit einigen Zinken zu tun hat, denen man in Männergesichtern so begegnet.
Aber die Apothekerin weiß, was ich meinte. Ich frage nach etwas mit Meersalz und denke, ich kriege so ein kleines Spritzdingens, aber nein, es ist ein ausgewachsener Spray. Ist  auch nicht ganz billig. Drauf steht, es sei für die Nasenhygiene. Hübsch, denke ich. Warum nicht? Als ich es in meine Nase spraye, kann ich umgehend seit gestern zum ersten Mal wieder richtig atmen. Deshalb kann ich zwar noch immer nicht zwischen Hühner- und Fischsuppe geschmacklich unterscheiden, doch das Atmen ist einfach angenehmer so.
Also fahren wir an der Küste entlang durch mehrere kleine Dörfchen, alles Teile des Städtchens Noirmoutier mit engen, winkeligen Sträßchen und diesen sauberen weißen Kartonhäuschen, bis zum Ende dieses Zipfels der Insel. L’Herbaudière – das ist da, wo der Hafen ist. Ein Fischereihafen. Die Fischsuppe wird hier hergestellt. Außerdem gibt es einige Restaurants, die sogar geöffnet haben. Wäre vielleicht was, wenn mein Geschmacksvermögen zurückgekehrt ist – aber es ist allerdings sehr weit von zu Hause.

In L’Herbaudière steht auf dem äußersten Felsenzipfel ein Fort. Dort haben mal wieder die Deutschen ihre Betonschönheiten hinterlassen, in der Hoffnung, die Alliierten bei ihrem Ansturm auf die Vendée in den Atlantik jagen zu können, nur sind diese ja bekanntlich nicht am Atlantik gelandet, sondern in der Normandie. Neben den Betonbunkern gibt es auch noch alten Steinmauern, die darauf schließen lassen, dass schon vorher hier ein Fort gestanden hat. Heute scheint das Gelände im Sommer ein Campingplatz zu sein – oder ein Jugendferienlager, genau ist das nicht zu erkennen. Doch es ist kein geschlossenes Gelände. Man kann außen herum oder auch quer über die Wiese und zwischen den Bunkern hindurch zum Rand der Insel und damit des europäischen Kontinentes gelangen. Die Bunker können beklettert werden, und wer es nach ganz oben schafft, ist der Größte – wie eine Horde Kinder lautstark zu verstehen gibt. Kinder sind ja schon anstrengend, wenn man einfach nur ruhig das Meer genießen will, aber andererseits ist es schön, dass sie die Möglichkeit haben, solche Abenteuer zu erleben. Zuerst draußen auf den niederen Felsen im zurückweichenden Meer – ich höre auf dem Weg dorthin lauthalse Rufe kleiner schwarzer Schatten ganz draußen am Wasser, sehe winkende Hände, die von Erwachsenen auf dem sicheren Land fröhlich erwidert werden – dann auf den Bunkern. Die Erwachsenen stehen geduldig herum und bewundern ab und zu das Geschick der Jugendlichen. Niemand verbietet, man lässt einfach machen. Und wenn mal jemand runterfällt, wird das sicher auch eventuell nur ein Beinbruch sein. So soll es sein, denke ich. Auch wenn das Geschrei nervt.
Auf der Rückfahrt bin ich ziemlich benebelt, die Erkältung hat mich voll im Griff, da hat auch der Ausflug in die sauerstoffhaltige Luft nicht viel geändert. Ich kaufe aber noch beim Super U ein und nehme dieses Mal wirklich Leckereien mit, aber nur Dinge, die ich nicht sofort esse muss. Die erwähnte Fischsuppe ist die Rettung für den Abend – und als Hauptspeise das Lammsteak, das noch im Kühlschrank ist, in Niedergarmethode, auch wenn das heute Perlen vor den Schnupfen geworfen ist. Ansonsten Fisch und noch einmal eine Entenbrust, Zucchini und Pilze, außerdem Wachteleier. Die müssen auch einmal sein, und Silvester bietet sich an. Außerdem finde ich doch tatsächlich meine Lieblingstörtchen – tarte citron. Also gehen die auch mit – man muss nicht mal eines ganz auf einmal essen.

Mittwoch, 29. Dezember 2010

Zwischen den Jahren Tag 3


Es regnet. Nicht gerade in Strömen, aber auch die einzelnen Tropfen sind unangenehm kalt. Da macht die Morgenrunde keinen Spaß. Beim Eingang in die Dünen treffen wir die Dame mit den beiden Hunden – nein, genauer gesagt, Buddy trifft die beiden Hunde, ein schwarzer wuscheliger Hund, sicher eine Rasse, aber keine, die ich benennen kann, und ein großer und etwas dicklicher Malamute, beide eindeutig Senioren. Wobei nicht immer klar ist: sind diese Wolfsverwandten dick wegen ihres Fells oder sind sie es wirklich? Diese Malamutes sind kräftige Hunde. Dennoch sind wohl die meisten als Haustier gehaltenen übergewichtig. Das ist einfach kein Hund, der im Haus gehalten werden kann. Es ist ein Arbeitshund. Immerhin hat er Wolfsblut. Und ein Wolf in der Küche ist eine seltsame Vorstellung. Dieses Wolfsblut läuft wenigstens ohne Leine, ob er gehorcht, ist eine andere Frage und nicht mein Problem.
Das Hundetreffen verläuft friedlich. Drei ältere Herrschaften treffen aufeinander und tauschen ihre Erfahrungen aus, dann wird weitergegangen, zwei in die eine, einer – hoffentlich – in die andere Richtung, hinter mir her. Eine der Situationen, in die ich mich nicht einmische, im Gegensatz zu den Herrchen und Frauchen anderer Hunde. Auch dieses Frauchen ruft irgendetwas, sie hängt aber am Mobiltelefon, kann damit gar nicht viel machen. Außerdem haben die Hunde sich schon einmal getroffen, da muss man sich nicht einmischen. Die meisten Franzosen sehen das auch so, zumindest wenn sie größere Hunde haben. Besitzer kleiner Hunde geraten immer mal in Panik. Wenn ich ihnen dann mitteile, dass Buddy Respekt vor kleinen Hunden hat, kriege ich entweder zu hören: Mein Kleiner wurde schon mal von einem Schäferhund gebissen und hat seither Angst (Hund oder Herrchen?) oder auch: Aber der Kleine beißt… Ok, da denke ich dann: Das ist deren Problem – und ich weiß, dass mein Hund auch ängstliche Beißer beruhigt. Keine Ahnung warum, aber es ist so.
Ich biege in meinen Weg ein und erwarte, dass mein Hund folgt. Was er erst einmal nicht tut. Mir fällt das erst nach einigen Metern auf, als ich schon fast bei der Mühle bin. Doch als ich mich umdrehe, sehe ich Ohren über die Kuppe schlappern und ein krummbeiniges Etwas, das aussieht wie mein Hund, kommt im gemütlichen Kanter den Weg herunter. Ich kümmere mich nicht weiter um ihn und gehe weiter. Ich liebe es, dass ich mich auf meinen Hund verlassen kann. In den ersten Jahren war das sehr problematisch. Wenn er auf Hundefreunde traf, war er völlig aus dem Häuschen und vergaß, dass er eigentlich zu mir gehörte. Er folgte jedem Hund und war nicht zu überreden, zu mir zurückzukehren. Nicht nur einmal musste mir mein Hund zurückgebracht werden, wenn es mir nicht gelang, so schnell zu folgen. Natürlich nahm ich ihn normalerweise an die Leine, wenn ich einen Hund sah, doch manchmal passierte es halt, dass er den anderen Hund zuerst sah. Außerdem wollte ich ja, dass er Hunde traf – schon damals – doch irgendwann sollte er dann doch wieder mit mir mitkommen. Also Leine – wenn ich ihn erwischte.
Doch seit vielen Jahren klappt das nun schon prima. Er kann seine Hundefreunde treffen – und er hält jeden Hund für seinen Freund – und guten Tag sagen, eine Zeitlang das mit ihnen tun, was Hunde so tun – wir würden es „tratschen“ nennen, man könnte es auch als gemeinsames Zeitunglesen bezeichnen, außerdem hinterlässt man der Nachwelt deutliche Duftstoffe, um zu zeigen, wer hiergewesen war. So haben andere Hunde dann auch wieder einige Artikel zu lesen. Wenn das erledigt ist – vielleicht je nach Hund noch ein paar Minuten „Fang mich“ gespielt wurde -  wird sich getrennt und jeder folgt seinem Herrn. Außer der andere ist ein Jugendlicher. Dann wird es schwieriger, denn der muss erst einmal überzeugt werden, den neuen Freund wieder zu verlassen und dem eigenen Herrchen zu folgen. Ich schicke in dem Fall dann meist Buddy mit dem Jungen zurück. Manchmal erinnern sie sich dann: Ach so, da muss ich ja bleiben – und Buddy kommt zurück, manchmal kommen beide zurück, und das Spiel muss wiederholt werden. Amüsant ist dann die Reaktion der Herrchen, die oft keine Erfahrung haben. Sie verstehen gar nicht warum nun ihr Hundchen so begeistert nicht zu ihnen kommt. Erfahrene Hundebesitzer sind da unkomplizierter. Sie warten eben, bis der Anschwung von Energie vorbei ist und disziplinieren dann den Jungspund, damit er beim nächsten Mal besser gehorcht. Ich bin aber auch schon zurückgelaufen, um den zweiten Hund wieder loszuwerden, denn irgendwie reicht mir einer. Nun ja, ich kenne das ja wie gesagt. Aber warum soll es anderen besser gehen als mir in den Anfangsjahren? Wenn auch der Grund damals nicht so sehr der jugendliche Überschwang war, sondern die Zeit, die Buddy in der Tierschutzbetreuungsstelle in einem Rudel verbrachte, von wo er zu mir kam. Das war die wohl glücklichste Zeit in seinem damals sehr jungen Leben, das ihm schon einige Traumata beschert hatte. Und deshalb liebt mein Hund alle Hunde. Was ja schön ist. Ich gönne es ihm.

Dienstag, 28. Dezember 2010

Zwischen den Jahren Tag 2


2. Tag der Erkältung – mir geht es nicht gut, aber na ja, da muss man durch. Morgendlicher Lauf im Nebel mit Ian Rankin in den Ohren, dann erst mal Ruhe. Nachmittags beschließe ich, es gemütlich anzugehen. Ich fahre in den Wald hinter Noirmoutier, den ich am Samstag schon gesehen hatte. Dort gibt es einen hübschen Strand mit diesen kleinen Badehütten auf Stelzen, die inzwischen schon richtig als Sehenswürdigkeit gelten. Ich zitiere aus einem Heft, dass sich mit der Schönheit der Insel befasst – im künstlerischen Sinne: Diese kleinen Weingummi-farbenen Häuschen geben den Stränden ihren Charme und dienen als eine Erinnerung an die gloriosen Zeiten des Badens im Meer während der „Belle Epoque“. Man erinnere sich an gestreifte Badenanzüge, die bis zu den Waden reichen und Frauen in Röcken mit Rüschen. In anderen Orten seien diese Häuschen verschwunden, aber auf Noirmoutier sorgen die Eigentümer der Hütten dafür, dass ihre Strandschätze nicht verschwinden.
Als ich aus dem Auto aussteige, fällt mir ein alter Mann auf, der mit einer schrägen Bommelmütze, die irgendwo zwischen Weihnachtsmann und Kaspar angesiedelt ist, hin und her schluft. Da kommt er doch tatsächlich auf mich zu und spricht mich an. Ich habe keine Ahnung, was er will. Es ist schon schwierig, französisch überhaupt zu verstehen, aber alte Männer zu verstehen kann sogar auf Schwäbisch Probleme bereiten. Da ich höflich erzogen bin, teile ich ihm mit, dass ich nichts verstehe. Er meint, ob ich Deutsche sei. Klar, die Autonummer auf meinem Auto ist nicht zu übersehen. Er fragt noch mal mit einem Schwall von Worten irgendwas, doch dann dringt zu mir durch, er will Geld von mir – 30 Euro. Klar, billig ist das Land nicht, auch nicht beim Betteln. Eine Bar hat zudem auch noch geöffnet. Und die schaut dem Alten aus den Augen und dem verquollenen Gesicht. Ich werde ungehalten, teile ihm mit, das sei sein Problem und will an ihm vorbei, er kommt immer näher heran, fängt an zu flüstern und sabbert vor sich hin. Alt ist relativ, er ist vermutlich nicht älter als ich, vielleicht sogar jünger. In meinem momentanen Zustand muss ich aufpassen, mich nicht zu übergeben. Es gelingt mir, weiterzugehen und etwas Würde zu bewahren, denn jetzt entnehme ich seinen Worten auch noch anzügliches, bin aber nicht ganz sicher, was er eigentlich sagt. Vermutlich auch besser so. Ausgerechnet jetzt kümmert sich mein Hund um einen Baumstamm oben im Wald – allerdings hätte auch seine Anwesenheit an meiner Seite nichts genutzt. Man hat in diesem Land keine Angst vor Hunden. Und ich bin sicher, der meine hätte eher mit dem Schwanz gewedelt als geknurrt. Ich gehe zu einer jungen Frau und bitte sie, mir zu helfen – der Alte schlappt davon. Die junge Frau ist etwas irritiert, aber das ist mir für den Moment egal. So etwas passiert natürlich nur, wenn man ohnehin nicht so ganz in Ordnung ist. Denn nur dann kann man diese Situationen nicht locker abfangen. Aber ok – ich sehe ihn zum Glück nicht wieder, vermutlich hat die Bar doch noch etwas für ihn zu trinken gehabt.

Etwas zitternd laufe ich mit dem Hund an der Leine auf der Uferpromenade entlang und finde es schön hier. Ich gehe bis zum Ende der kleinen Bucht, an dem auf einem Felsenchaos ein paar dunkle Bäume stehen. Die ganze Atmosphäre ist sehr gespenstisch, diese dunklen Felsen, die schwarzen Bäume, das graue Meer. Auf der anderen Seite des Strandes führt ein Steg ins Wasser. Ich beschließe, diesen noch zu erforschen und gehe zurück. Zuerst führt der Weg wieder durch diesen schwarzen Kiefernwald. Wäre ich allein, würde ich Geister sehen, doch es sind außer mir noch einige Leute unterwegs, unter anderem eine Mehrgenerationengruppe mit zwei kleinen Hunden, von denen einer sich mit Buddy anlegt, was etwas laut wird. Aber offensichtlich scheint er das öfter zu machen, denn die Menschen, zu denen der Dackel gehört, regen sich nicht auf, als Buddy sich wehrt. Die Kinder jedenfalls finden Buddy nett.

Warum machen sich eigentlich ältere Herren gerne so sehr zum Affen? Als ich den Weg entlang gehe, sehe ich das Paar schon von weitem. Er lehnt in lockerer Machopose gegen einen Felsen mit dem Rücken zum Meer, sie probiert das Weihnachtsgeschenk, eine kompakte Kamera, aus – natürlich ohne Sucher, nur mit Display. Für den Aufwand, der für dieses Foto betrieben wird, wird das Ergebnis lächerlich sein, denn die Lichtverhältnisse lassen kein gutes Foto ohne Blitz zu. Und einen Blitz sehe ich nicht. Aber ok, ein Spielzeug muss man kennenlernen. Der Mann hat sein blondes, langbeiniges Spielzeug schon kennengelernt, davon kann ich ausgehen. Er ist grauhaarig und durchaus distinguiert, auf eine locker-sportliche Art, ich schätze so um die 50, auch wenn das bei dem sportlichen Typ schwer zu schätzen ist. Er könnte direkt aus einem Modekatalog gesprungen sein, Männer werden da ja gerne in die Jahre gekommen genommen. Das weibliche Pendent ist das übliche, das sich ein in die Jahre gekommener distinguierter Herr als Austausch für das ebenfalls in die Jahre gekommene Mutter seiner Kinder anschafft, um seine schwindenden Hormone in Aktion zu halten. Die langen blonden Haare werde gekonnt geworfen, vom Gesicht ist nicht viel zu sehen, das ist auch nebensächlich, wichtiger ist, was sich in dem Lederanzug verbirgt. Ich gehe an den beiden vorbei und mir verschlägt es den Atem – leider habe ich keinen Schnupfen, meine Bronchien schreien auf ob der Duftstoffe, die sich in ihnen verirren. Irgendwie muss unter den Weihnachtsgeschenken auch Parfüm gewesen sein, dessen großzügige Anwendung für die gesamte Bevölkerung Noirmoutiers gereicht hätte.

Ich gehe auf den Steg und atme erst einmal tief durch. Leider ist die Holzkonstruktion nach der Hälfte gesperrt. Dennoch, auch hier Erinnerungen an die Belle Epoque, allerdings in wärmeren Zeiten. Ich mache noch ein paar Fotos und gehe dann zurück.
Inzwischen ist das Paar auch auf dem Steg angekommen. Er lehnt lässig an der Balustrade, während sie wieder ihre Kamera auf ihn richtet. Nebel hatte sich inzwischen gebildet, sodass das Foto noch interessanter werden wird – Schwarzer Geist vor weißem Dunst. Während sie in Karikatur einer Profifotografin versucht, ihn abzulichten, greifen seine Hände immer wieder nach ihr. Sie entwindet sich ihm wie ein schwarzer Aal, er streckt seine Arme wie Tentakeln aus, um sie an sich zu ziehen. Sein Gesicht strahlt vor Verzücken, sein Kichern ist fast mädchenhaft – ihr Gesicht ist hinter Haaren und ihrem Kameradisplay versteckt. Der Tanz der beiden ist lächerlich. Er giert nach ihr, sie entzieht sich ihm in schlangenhafter Bewegung. Ich gehe schnell an ihnen vorbei.
Leider vergesse ich, den Atem anzuhalten. Der Schwall ihres Parfüms zieht bis zur Bretagne gegenüber hinüber. Arme Seevögel. Arme Fische.
Einkaufen bei SuperU auf dem Weg zurück. Obst hauptsächlich. Ein Vorteil hat es, wenn man sich nicht so wohl fühlt: Man hat nicht Lust, diese unzähligen Leckereien zu kaufen, die hier angeboten werden. Diese Gefahr ist in den französischen Supermärkten ungleich größer als in Deutschland. Doch ich nehme mir vor, bis Silvester wieder so fit zu sein, dass ich mir etwas wirklich Besonderes kochen kann. Heute würde es nur einfach Karotten mit Ingwer geben. Ingwer ist schon deshalb gut, weil er gegen die Erkältung kämpft.

Montag, 27. Dezember 2010

Zwischen den Jahren Tag 1


Nun bin ich krank. Ich wache heute Nacht auf und merke, dass sich etwas in meinen Bronchien einnistet. Nun ja, da muss man durch. Normalerweise kriege ich meine jährliche Erkältung später und nicht irgendwo in Europa, sondern zu Hause auf der Schwäbischen Alb. Und woher sie nun kommt – na ja, da können im letzten überfüllten Supermarkt vor drei Tagen ein paar Bakterien auf mich herübergehüpft sein. Ich werde es überleben.
Die Internetverbindung ist heute miserabel. Ist es mal wieder das Wetter? Kenne ich doch schon. Bewölkt bedeutet, Wifi mag nicht so wie es soll. Immerhin funktioniert es, wenn auch sehr schwach und langsam.
Damit besser als in Trégastel. Dort zahle ich jedoch nichts, hier schon, also sollte es auch funktionieren. Nun ja, etwas Geduld üben kann eine ganz gute Sache fürs Gemüt sein.
Allerdings habe ich gehört, dass ein Empfang selbst wenn man neben dem Router sitzt – Livebox genannt – nicht notwendiger Weise sicher ist. Internet ist schließlich  keine französische Erfindung – also kann es nicht immer funktionieren. Wie ja auch der Strom – auch der wurde nicht von einem Franzosen erfunden. Somit kann man nie sicher sein, dass Strom aus der Leitung kommt.
Ok – das will ich nicht herbeischreien. Kein Strom hier keine gute Idee.
Das sonnige Wetter ist also beendet, der Himmel ist grau in grau, noch regnet es nicht. Wenn man Météo glauben kann, werden die Bretagne und die Vendée die wärmsten Gegenden auf Frankreichs Festland sein, allerdings eben auch regnerisch. Jedoch wärmer als am Mittelmeer. Das ist angenehm. Wärmer als in den letzten Tagen, als der Himmel klar war. Da fragt man sich dann, was besser ist.
Wenn man einen Hund hat, muss man auch dann mit ihm raus, wenn man lieber sich ins Bett zurückziehen würde. Unseren Morgenlauf haben wir natürlich getätigt, aber das reicht natürlich nicht. Also breche ich nachmittags auf.
Zuerst um Abenteuer 1 zu bestehen: Der Besuch einer Apotheke. Die Bronchien müssen sofort etwas haben, damit sie sich beruhigen oder auch den Schleim heraus lassen. Das weiß ich schon. Also betrete ich die Apotheke, die nur wenige Meter von hier mit grünem Kreuz vor der Tür vor sich hin blinkt. Diese grünen Kreuze sind sehr praktisch, denn einmal weiß man sofort, wo eine Apotheke ist, zum anderen blinken sie nur, wenn die Apotheke auch geöffnet ist.
Vor mir betreten eine alte und eine junge Dame den Laden. Ich vermute, Oma und Enkelin, die Ältere war ziemlich alt. Wir müssen anstehen, offensichtlich stockt man nach den Feiertagen seine Medikamente auf. Der eine Kunde ist fertig – und eine Frau wäre an der Reihe, aber die alte Dame, bestimmt und mit dem Recht des Alters, stürmt vor und fragt nach einem Teil für ihre Insulinspritze – zumindest denke ich, dass es sich darum handelt. Die Kundin, die eigentlich an der Reihe wäre, tritt irritiert zurück, die Enkelin ist peinlich berührt, sie erklärt der Oma, dass sie gar nicht dran sei. Oma interessiert das aber nicht, sie will ihr Teil. Die Apothekerin holt, was auch immer zu holen war, und die beiden Damen überlegen, ob das nun das richtige für Omas Gerät sei. Die Apothekerin kümmert sich währenddessen um die Kundin, die zurückstehen musste.
Auch der zweite Kunde, die eigentlich vor Oma und Enkelin bedient werden wollte, konnte seinen Wunsch vortragen, und die Apothekerin wendet sich wieder der alten Dame zu. Die zweite Apothekerin ist nun mit ihrer Kundin auch fertig, und ich darf. Ok – nun ist es nicht so, dass ich das zum ersten Mal machte. Zufällig sehe ich, während ich warte, etwas von „Mal du gorge“ – aha! Das kenne ich! Halsschmerzen. Das also nicht – gorge ist der Hals. Der tut nicht weh. Ich deute auf meine Brust und sage, dass ich „quelque chose“ für hier brauche. „Pas de gorge“ – nicht für den Hals – „ici“ - Faust an Brust, als würde ich die französische Nationalhymne und die Internationale gleichzeitig singen. „Bronche“, sagt die Apothekerin freundlich lächelnd. Ha – das verstehe ich und strahle, klingt wie Bronchie – sie sagt natürlich: „Bronschö“, das „on“ zu einem hübschen Nasal verkleidet, der alle Halsschmerzen sofort harmlos werden lässt. Ich nicke begeistert, sie verschwindet im hinteren Teil und kommt mit einer Packung zurück, die großes ahnen lässt. Auch das kenne ich schon, ist nicht das erste Mal, dass ich französische Medizin kaufe. Mein heimischer Medizinschrank ist voller französischer Erkältungsmittel, ich lass sie nur immer zu Hause, damit ich neue kaufen kann. In Deutschland bekommt man Tropfen, auch mal Tabletten, selten einen Saft, vor allem wenn man keinen Zucker in der Medizin möchte – das habe ich ihr noch gesagt: Pas du sucre. Hier bekommt man das, was für mich seit „Mary Poppins“ und England immer das ist, was ich unter einer Medizin verstehe. „With a spoonful of sugar every medicine goes down…“– wenn auch in meinem Fall ohne Zucker. Eine Flasche mit Hustensaft – schon der Anblick lässt jede Bronchitis verschwinden. Es ist einfache Psychologie. Gegen eine Flasche mit zähflüssigem, chemisch nach Bonbons schmeckenden Saft sind Tabletten oder Tropfen nichts. Beim Anblick einer Hustensaftflasche löst sich jeder Schleim in den Bronchien – der Wirkstoff ist da nebensächlich.
Teuer war diese Flasche auch nicht. Ich bin sicher, in Deutschland hätte ich das Dreifache bezahlt.

Sonntag, 26. Dezember 2010

2. Weihnachtsfeiertag - oder auch Boxing Day

Bei L‘Épine sind wir am Strand entlang Richtung L’Herbaudière, den Ort am Nordende der Insel, gegangen. Gleichmäßige Baumstämme, senkrecht in den Sand gehauen, bilden hier die Wellenbrecher. Wäre das was für den Strand in Trégastel? Sah jedenfalls gut aus. Und noch ganz neu. Vieles auf dieser Insel ist neu oder renoviert. Der Tourismus scheint die Kassen zu füllen, trotz Wirtschaftskrise.
Dann einen der Zugänge durch die geschützte Düne hinauf in das Moor. Hier knallt es. Jäger. Als ich ins Gebüsch will, sehe ich einen – ich beschließe, das Weite zu suchen, könnte für Hund und mich sicherer sein, eine Ladung Schrot muss ich nicht haben. Und man weiß ja nie, wie gut die Jäger nach dem mittäglichen Pastis und Wein sehen.
Etwas weiter jagt ein braunes Etwas an mir vorüber, erschreckt kurz Buddy, dreht mit fliegenden Ohren um, lacht mich an, springt kurz an mir hoch, als ich ihm zu verstehen gebe, er sei hier verkehrt, dann saust er wieder in den Kiefernwald zurück. Offensichtlich der Jagdhund des erwähnten Jägers. Nette Begegnungen im Moor hat man so. Der Sand ist mühsam zu gehen, fast so mühsam wie tiefer Schnee. Nur hat man den Sand hinterher in den Schuhen, der Schnee ist zu Hause verschwunden. Die Zehen sind allerdings auch kalt. Diese Sportschuhe sind doch nicht ganz geeignet für diese Kälte, das Netz über den Zehen, im Sommer gut für die Durchlüftung, lässt nun zu viel kalte Luft an den Fuß. Ich fürchte, neue Schuhe sollten doch mal eingekauft werden. Ob man das allerdings hier findet, bezweifle ich.
Also wieder über die Düne hinauf und hinunter zum Meer, am Strand entlang zurück zum Auto, gegen die Sonne sehen die Pfosten noch interessanter aus. Ein kurzer Abstecher mit dem Auto nach L’Herbaudière, dort gibt es einen richtigen Hafen und eine Werft, zwei militärisch aussehende Jachten irritieren mich, doch ich beschließe, das ein anderes Mal genauer zu erforschen, denn auch hier gibt es wieder einmal eine Völkerwanderung.
Zu Hause dann endlich die Weihnachtsente. Entenbrust, niedrig gegart – eine Stunde bei 80°, vorher leicht angebraten. Das Fett wird auf diese Weise nicht kross, aber das Fleisch ist es wert, denn es ist zart. Dazu ein Sößchen aus Ingwer und Orangensaft mit einem Schuss Muscadet. Opulent, aber lecker. Buddy ist auch zufrieden, denn das Fleisch war für eine Person zuviel, also auch für ihn rosa Entenbrust, niedrig gegart. Das Glas Muscadet trinke ich selbst.

Samstag, 25. Dezember 2010

1. Weihnachtsfeiertag


Endlich weiß ich, warum sich die Franzosen so schwer damit tun, Fremdsprachen zu erlernen. Es ist für sie so sehr mühsam, als Kind die eigene zu erlernen, das reicht für ein ganzes Leben.
Diese weise Erkenntnis ereilte mich, als ich gestern im Radio kleine Kinder „Joyeux Noël“ sagen hörte. Es war so schwer für sie auszusprechen, dass es ein Genuss war. Es war sehr niedlich anzuhören. Aber natürlich ist es immer niedlich, wenn kleine Kinder sprechen, auch deutsche kleine Kinder haben ihre Probleme mit der Aussprache. Doch französisch auszusprechen, wenn man noch nicht alle Muskeln im Mund entwickelt hat, die es einem ermöglichen, klangvolle Vokale und elegante Nasale zu intonieren, hat einen besonderen Reiz. Wenn Erwachsene, deren Muttersprache alles außer Französisch ist, es versuchen, klingt es meist grausam, vor allem wenn diese Erwachsenen englischer Abstammung sind, ich vermute jedoch, für französische Ohren klingen auch noch andere fremdsprachliche Akzente schrecklich, darunter auch der Deutsche, wenngleich dieser durchaus als ganz legaler französischer Akzent im Elsass zu finden ist.
Doch nach diesen kleinen Franzosen im Radio war für mich klar: Wenn man diese Sprache zu sprechen gelernt hat, mag man nicht noch eine lernen.
Für mich ist es auch schwer, diese Sprache auszusprechen. In jungen Jahren habe ich behauptet, mein Mund sei nur fürs Englische gebaut. Doch seit ich Engländer Französisch sprechen hörte, denke ich, ich bin vergleichsweise begabt fürs Französische. Leider fehlt mir immer noch die Grundlage der Grammatik. Meine Aussprache dessen, was ich zu sagen in der Lage bin, scheint jedoch immerhin mal verständlich geworden zu sein. Das ist doch sehr erfreulich und aufbauend.

Freitag, 24. Dezember 2010

Aus dem Schnee auf die Insel

Die Ankunft

Die Insel liegt im Atlantik – allerdings so nahe am Festland, dass eine Straße hinüber führt, die bei Ebbe zu befahren ist, le gois, ein alter Steinpfad aus Kopfsteinpflaster, neuerdings größtenteils asphaltiert. Eine Brücke verbindet die Insel, sodass sie heute tidenunabhängig am Weltgeschehen angebunden ist. Noirmoutier heißt sie, ca. 60 km südlich von Nantes ist sie die erste einer Reihe von Inseln, die alle mit dem Festland verbunden sind. Für zwei Dinge sind diese Inseln bekannt: für Austern und für Salz. Außerdem für Tourismus, doch der findet im Sommer statt. Im Winter gibt es nur wenige Verrückte wie mich, die freiwillig dorthin fahren.
Ich entschied mich, auf der Insel den Jahreswechsel zu verbringen.
Abfahrt im Tiefschnee am Dienstagmittag – die Strecke bekannt, in diesem Jahr fahre ich sie bereits zum dritten Mal, zumindest bis Le Mans, danach trennt sich die Autobahn in die Bretagne von der in den Süden.
Der Beginn führt dieses Mal nicht über den Schwarzwald, der Schnee ist ein zu großes Risiko. Also über Karlsruhe – die Autobahn ist sogar frei. Dann die A 5 nach Süden, eigentlich will ich in Iffezheim über die Grenze, das Navi ist sogar einverstanden. Schilder erklären, dort sei irgendetwas gesperrt. Also weiter – kein Risiko eingehen – bis Achern. Und da beginnt der Stau. Stop and Go wegen Baustellen. Aber immerhin fahren wir.
Dann stehen sie vor uns – etwa 200 m vor unserer Ausfahrt beginnt der richtige Stau. Der Standstreifen löst das Problem, wir sind runter. Jetzt kennen wir die Strecke gut – denn hier wären wir auch über den Schwarzwald angekommen, nur vermutlich einiges später.
Die französische Autobahn, die A 4, ist belebt, aber nur an der Ausfahrt nach Haguenau stockt der Verkehr kurz, nach der Mautstation ist es wie immer frei. Auch die Straße über die Vogesen ist kein Problem, der LKW vor uns fährt schnell genug. Auf der Autobahn Lunéville – Nancy wird es dunkel. Der Verkehr ist heftig. Aber wir schaffen die Ausfahrt, kommen zum bekannten Hotel in Laxou, das Zimmer ist mal wieder im 2. Stock, natürlich gibt es keinen Aufzug.
Dann Courtpaille – das Steakrestaurant gleich gegenüber, auch dort sind wir Stammkunde, nur ist es sonst nicht so überfüllt. Doch wir erhalten einen kleinen Tisch mitten im Raum. Magret de canard mit einer pomme de terre au four. Und dann kommt Père Noel. Er verteilt Stofftiere an die Kinder. Warum bekommt Buddy keins? Er liebt Stofftiere.
Am nächsten Tag dann die große Strecke durch die Champagne. Jeder Stein und jede nicht-vorhandene Kurve ist bekannt. Zuerst ist die Straße 4-spurig – bis Vitry-le-François. Dann zweispurig hinter LKWs her. Zum Glück gibt es immer wieder 4-spurige Strecken. Pause im Rasthof Sommessous, der von der Autobahn nach Süden und der RN4 zu erreichen ist. Dann die Francelienne. Vorher noch eine Pause im Einkaufszentrum an der Einfahrt zur Francelienne. Unfassbar, was da los ist. Menschenmengen schieben sich durch die Gänge, auf dem Parkplatz ist kaum ein Platz zu finden. Und dann die Ausfahrt. Ich stehe im Stau, um auf den Kreisverkehr hinauszukommen. Irgendwann bin ich draußen und fahre in die Francelienne hinein, die Paris im weiten Bogen umfährt. Dort ist viel Verkehr, aber kein ernsthaftes Problem. Wir kommen in angemessener Zeit zur A 11 – und in den Stau bzw. Stop-and-Go-Verkehr, der sich vor der Mautstelle über 20 km gebildet hat. Also wieder Pause – die Raststätte ist überfüllt. Schließlich geht es weiter, wir fahren durch die Mautstelle, nach der sich die A10 nach Bordeaux und die A 11 nach Rennes und Nantes trennen. Unsere Autobahn nach Westen ist relativ frei. Doch dann beginnt es zu schneien. Nichts Schlimmes, der Schnee ist sehr nass, außerdem ist die Autobahn gepökelt, so leicht bleibt da nichts liegen. Dennoch sehne ich Le Mans herbei, man weiß ja nicht, was noch kommt.
Als wir im Hotel sind, schneit es heftiger. Um zum Buffalo Grill zu kommen, müssen wir auf die andere Seite der Autobahn, also wieder fahren. Das Auto ist dick mit nassem Schnee bedeckt, der sich aber leicht wegfegen lässt. Nach dem Essen sind die Straßen schneebedeckt. Kein Problem, in das Gebiet um das Hotel zu kommen, doch kurz vor der Zufahrt müht sich ein entgegenkommender LKW mit der Steigung ab. Und da dieses ja gefährlich ist, traut sich ein PKW mit einer jungen Frau am Steuer nicht vorbei. Nur 30 m vor der Zufahrt – meine Hupe klingt gut. Die junge Frau findet ihren Gashebel und rollt vorbei, wir ebenfalls und rein in die Zufahrt des Hotels.
Am Donnerstag müssen wir noch ca. 280 km fahren. Der Schnee ist weg. Wir fahren nach Westen, das Land ist braun und grün, eine Erleichterung für die Augen. Wie in der Lorraine stehen große Flächen unter Wasser. Die Loire, vermute ich. Der Wind ist heftig, die Arme brauchen Bizeps, um das Lenkrad zu halten.
In Nantes können wir mal wieder über eine dieser imposanten Brücken fahren, von denen Frankreich mehrere zu bieten hat. Unter uns die Loire und der Hafen. Dann geht es über kleine Straßen weiter nach Süden, das Land ist platt mit Kiefern. In einem Super U kaufe ich die Erstausstattung fürs Haus und bin entsetzt, wie teuer alles ist, allerdings kaufe ich auch ein paar Leckereien. Wenn alle schlemmen, sollte ich es auch tun, wenigstens etwas.
Le gois, die Passage zur Insel. Wird sie frei sein? Die Vermieterin hatte geschrieben, sie sei bis 13:30 Uhr frei, inzwischen war es 14:30 Uhr. Ich fahre dennoch hin. Die Warntafeln am Zugang blinken bedrohlich. Das Wasser würde steigen, erzählen sie. Schön – das mag ja sein, aber ich sehe kein Wasser, das sich nähert. Stattdessen fahren Autos über das Sträßchen, einige parken im Watt, die Leute laufen auf dem Meeresboden rum und tun, was Franzosen gerne tun: sie sammeln. Muscheln. Und Würmer zum Angeln. Das sind Einheimische, die wissen, was sie tun. Und wenn sie noch auf le gois sind, kann ich das auch tun. Über diese Passage auf die Insel zu fahren ist einfach richtiger als über die Brücke.
Am liebsten würde ich aussteigen, aber das halte ich für später zurück. Muscheln sammeln kann ich auch. Ich erinnere mich an den ersten Aufenthalt vor fast 20 Jahren, auf dem Campingplatz mit der damals noch kleinen Nichte. Wir hatten Herzmuscheln gesammelt und brachten sie auf den Campingplatz, wo wir einige Deutsche kennengelernt hatten. Diese standen nun fassungslos um uns herum und betrachteten die Müschelchen. „Ihr wollt die essen?“ – „Natürlich! Was sonst?“ Sie beobachteten genau, wie ich sie kochte und dann aß. Auch Nichte liebte schon damals Meeresgetier. Die Deutschen schüttelten den Kopf. Das verstanden sie nicht.
Ich finde die Straße – Rue de la Plage – und rufe die Vermieterin an. „Je suis arrivé“. Aha – ich solle reingehen, der Schlüssel stecke. Ich solle mich installieren – einrichten – sie käme dann schon.
Auch gut. Schön warm war es im Häuschen. Ich trage mein Gepäck ins Haus, packe aus und mache mir erst mal einen Kaffee.
Später kommt die Vermieterin. Nein, ihr Mann kommt, denn sie hat Angst vor dem Hund. Echte Angst. Panik, wie ich merke, als Buddy die Tür öffnet und zu uns kommen will. Wir erledigen das Geschäftliche draußen. Schön, dass sie ihn dennoch akzeptiert. Sie sind nett, die beiden – und vorne im Haus hat die Petite-fille einen Laden. Enkelin? Die Vermieter sind doch nicht so alt, sicher nicht viel älter als ich.
Später fällt mir ein, dass sie mir den Schlüssel für das Wifi nicht gegeben haben. Ich gehe zur kleinen Tochter, doch die hat keine Ahnung. Ich rufe an – besetzt – als ich sie schließlich erreiche, will sie mir die Zahlen zum Aufschreiben durchgeben. Das klappt nicht, sage ich. Sie wird die Enkelin anrufen und dort könne ich die Zahlen holen. Das klappt – ich gehe in den Laden, bekomme einen Zettel und ein fröhliches „Auf Wiedersehen!“  Oh – man spricht Deutsch.
Heute nun ist der 24. Dezember. Der Tag, an dem man in Deutschland Weihnachten feiert. Hier auch? Keine Ahnung. Der Supermarkt hat bis um 19 Uhr geöffnet.
Als ich gegen 8:30 Uhr aufstehe, ist es noch dunkel. Es wird gerade dämmrig. Als ich angezogen bin, um mit Buddy rauszugehen, ist es einigermaßen hell. Als ich in den Dünen bin, schimmern die Wolken rosa, die Sonne geht auf. Eine Runde am Strand, es ist anstrengend, denn der Wind ist heftig, es ist sehr kalt.
Nachmittags noch eine Runde, eigentlich will ich quer über die Insel auf die andere Seite, doch ich finde keinen Durchgang. Muss wohl die Karte noch einmal anschauen. Also doch mit dem Auto. Ich fahre ein Stück, dann laufen wir ein Stück – ich stelle fest, wir sind nicht weit von unserem Strandabschnitt. Morgen früh werden wir da hinauf laufen. Heute fahre ich jedoch noch ein Stück weiter, zum Wald, in dem ich damals, als ich mit Merlin meine ersten Ferien in einem Mobilhome gemacht hatte, immer gefahren war, weil es das einzige Gebiet auf der Insel ist, in dem man frei gehen kann, ohne am Strand entlang oder zwischen Häusern hindurch zu müssen. Heute haben sie die Dünen und den Kiefernwald mit Zäunen geschützt, der Mensch muss auf den Wegen bleiben. Das ist gut so. Der Erosion muss auch hier Einhalt geboten werden, die Pflanzen müssen eine Chance haben und dürfen nicht durch Touristenfüße niedergetrampelt werden. Doch in diesem hügeligen Wald gibt es genügend Pfade, um sich noch immer zu verirren.
Zu Hause ruft Nichte an. Sie ist bei ihren Freunden irgendwo in NRW. Und sie ist fasziniert, als ich sage, dass hier noch die Sonne scheine. In Deutschland war es zappenduster – gegen 17 Uhr. Die Sonne scheint um diese Zeit auch hier nicht mehr wirklich, aber es ist noch hell, und der Himmel ist blau. Morgens wird es zwar sehr spät hell, aber das gleicht der Abend lässig aus.
Das Weinachtsessen fällt dürftig aus. Ein Entrecôte mit Brot, ein paar Champignons und kleinen Tomaten, als Ausgleich hinterher ein Tiramisu. Ich nehme mir vor, die Entenbrust in der Niedergarmethode zu machen – morgen oder so, mal sehen.
Jetzt brennen überall die Christbäume – oder besser die Kerzen an den Christbäumen, ich wünsche niemandem, dass der Christbaum brennt. Außerdem hat der verantwortungsvolle Bürger heute ohnehin elektrische Kerzen. Hier brennt nur das Deckenlicht.
Der kleine Plastikbaum, der bei meiner Ankunft neben einer Flasche Muscadet stand, erinnert mich daran, dass Weihnachten ist. Schön – für alle anderen.