Montag, 27. Dezember 2010

Zwischen den Jahren Tag 1


Nun bin ich krank. Ich wache heute Nacht auf und merke, dass sich etwas in meinen Bronchien einnistet. Nun ja, da muss man durch. Normalerweise kriege ich meine jährliche Erkältung später und nicht irgendwo in Europa, sondern zu Hause auf der Schwäbischen Alb. Und woher sie nun kommt – na ja, da können im letzten überfüllten Supermarkt vor drei Tagen ein paar Bakterien auf mich herübergehüpft sein. Ich werde es überleben.
Die Internetverbindung ist heute miserabel. Ist es mal wieder das Wetter? Kenne ich doch schon. Bewölkt bedeutet, Wifi mag nicht so wie es soll. Immerhin funktioniert es, wenn auch sehr schwach und langsam.
Damit besser als in Trégastel. Dort zahle ich jedoch nichts, hier schon, also sollte es auch funktionieren. Nun ja, etwas Geduld üben kann eine ganz gute Sache fürs Gemüt sein.
Allerdings habe ich gehört, dass ein Empfang selbst wenn man neben dem Router sitzt – Livebox genannt – nicht notwendiger Weise sicher ist. Internet ist schließlich  keine französische Erfindung – also kann es nicht immer funktionieren. Wie ja auch der Strom – auch der wurde nicht von einem Franzosen erfunden. Somit kann man nie sicher sein, dass Strom aus der Leitung kommt.
Ok – das will ich nicht herbeischreien. Kein Strom hier keine gute Idee.
Das sonnige Wetter ist also beendet, der Himmel ist grau in grau, noch regnet es nicht. Wenn man Météo glauben kann, werden die Bretagne und die Vendée die wärmsten Gegenden auf Frankreichs Festland sein, allerdings eben auch regnerisch. Jedoch wärmer als am Mittelmeer. Das ist angenehm. Wärmer als in den letzten Tagen, als der Himmel klar war. Da fragt man sich dann, was besser ist.
Wenn man einen Hund hat, muss man auch dann mit ihm raus, wenn man lieber sich ins Bett zurückziehen würde. Unseren Morgenlauf haben wir getätigt, aber das reicht natürlich nicht. Also breche ich nachmittags auf.
Zuerst um Abenteuer 1 zu bestehen: Der Besuch einer Apotheke. Die Bronchien müssen sofort etwas haben, damit sie sich beruhigen oder auch den Schleim heraus lassen. Das weiß ich schon. Also betrete ich die Apotheke, die nur wenige Meter von hier mit grünem Kreuz vor der Tür vor sich hin blinkt. Diese grünen Kreuze sind sehr praktisch, denn einmal weiß man sofort, wo eine Apotheke ist, zum anderen blinken sie nur, wenn die Apotheke auch geöffnet ist.
Vor mir betreten eine alte und eine junge Dame den Laden. Ich vermute, Oma und Enkelin, die Ältere war ziemlich alt. Wir müssen anstehen, offensichtlich stockt man nach den Feiertagen seine Medikamente auf. Der eine Kunde ist fertig – und eine Frau wäre an der Reihe, aber die alte Dame, bestimmt und mit dem Recht des Alters, stürmt vor und fragt nach einem Teil für ihre Insulinspritze – zumindest denke ich, dass es sich darum handelt. Die Kundin, die eigentlich an der Reihe wäre, tritt irritiert zurück, die Enkelin ist peinlich berührt, sie erklärt der Oma, dass sie gar nicht dran sei. Oma interessiert das aber nicht, sie will ihr Teil. Die Apothekerin holt, was auch immer zu holen war, und die beiden Damen überlegen, ob das nun das richtige für Omas Gerät sei. Die Apothekerin kümmert sich währenddessen um die Kundin, die zurückstehen musste.
Auch der zweite Kunde, die eigentlich vor Oma und Enkelin bedient werden wollte, konnte seinen Wunsch vortragen, und die Apothekerin wendet sich wieder der alten Dame zu. Die zweite Apothekerin ist nun mit ihrer Kundin auch fertig, und ich darf. Ok – nun ist es nicht so, dass ich das zum ersten Mal machte. Zufällig sehe ich, während ich warte, etwas von „Mal du gorge“ – aha! Das kenne ich! Halsschmerzen. Das also nicht – gorge ist der Hals. Der tut nicht weh. Ich deute auf meine Brust und sage, dass ich „quelque chose“ für hier brauche. „Pas de gorge“ – nicht für den Hals – „ici“ - Faust an Brust, als würde ich die französische Nationalhymne und die Internationale gleichzeitig singen. „Bronche“, sagt die Apothekerin freundlich lächelnd. Ha – das verstehe ich und strahle, klingt wie Bronchie – sie sagt natürlich: „Bronschö“, das „on“ zu einem hübschen Nasal verkleidet, der alle Halsschmerzen sofort harmlos werden lässt. Ich nicke begeistert, sie verschwindet im hinteren Teil und kommt mit einer Packung zurück, die großes ahnen lässt. Auch das kenne ich schon, ist nicht das erste Mal, dass ich französische Medizin kaufe. Mein heimischer Medizinschrank ist voller französischer Erkältungsmittel, ich lass sie nur immer zu Hause, damit ich neue kaufen kann. In Deutschland bekommt man Tropfen, auch mal Tabletten, selten einen Saft, vor allem wenn man keinen Zucker in der Medizin möchte – das habe ich ihr noch gesagt: Pas du sucre. Hier bekommt man das, was für mich seit „Mary Poppins“ und England immer das ist, was ich unter einer Medizin verstehe. „With a spoonful of sugar every medicine goes down…“– wenn auch in meinem Fall ohne Zucker. Eine Flasche mit Hustensaft – schon der Anblick lässt jede Bronchitis verschwinden. Es ist einfache Psychologie. Gegen eine Flasche mit zähflüssigem, chemisch nach Bonbons schmeckenden Saft sind Tabletten oder Tropfen nichts. Beim Anblick einer Hustensaftflasche löst sich jeder Schleim in den Bronchien – der Wirkstoff ist da nebensächlich.
Teuer war diese Flasche auch nicht. Ich bin sicher, in Deutschland hätte ich das Dreifache bezahlt.


Abenteuer zwei findet dann im Wald statt, den wir neulich schon aufgesucht haben. Ich entscheide mich für einen Gang in diesem Kiefernwald, weil es dort schön und vor allem windgeschützt ist. Ich gehe davon aus, dass heute nicht zu viele Leute herumlaufen werden.
Zuerst finde ich den Zugang nicht, fahre einmal im Kreis herum, doch dann sind wir auf der Straße, die im Wald zum Meer führt. Ich parke neben Mülleimern, was sich dann als nicht ganz günstig herausstellt, als wir zurückkommen. Doch vorerst laufen wir erst einmal direkt in den Wald hinein, Pfade gibt es genug, einige breiter und mit Rindenmulch bestreut, andere ganz schmal. Wichtig ist es, die Richtung im Auge zu behalten, denn sonst kann man sich sogar in diesem winzigen Wald verirren. Eigentlich muss immer auf einer Seite das Meer sein – solange man weiß auf welcher. Aber man kann es schon erkennen – dort ist es heller.
Ich gehe über einen Hügel. In der Mulde auf der anderen Seite stelle ich mir vor, dass man hier im Sommer wunderbar den Tag verbringen kann – allerdings würden dies viele andere Leute auch tun. Der Weg führt an einem Zaun entlang. Ich überlege mir, ob das Haus dahinter auch beim letzten Mal, als ich mit Merlin auf der Insel gewesen war, schon stand. Eigentlich ist bauen so dicht an der Küste inzwischen verboten, außerdem liest man immer mal wieder was von Naturschutzgebieten, geschützten Dünen und solchen netten Dingen, aber das garantiert keineswegs, dass nicht doch wieder gebaut wird. Ich weiß nicht, ob das Haus so neu ist – es sieht neu aus, kann aber auch renoviert sein. Der Nachteil an diesem Baustil ist, dass man neue nicht unbedingt von renovierten Häusern unterscheiden kann, denn es wird im gleichen Stil wie immer gebaut. Und hübsch geputzt sind die meisten Häuschen.
Ich steige noch über einen anderen Hügel und drehe dann Richtung Strand ab, um einen Blick auf die Maschine zu werfen, die irgendwo die Ruhe stört. Ich sehe sie, als ich auf der vordersten Düne stehe. Ein Schaufelbagger schaufelt Sand unten am Strand. Auf der Düne geht es nicht weiter, ein Zaun versperrt mir den Weg – und ich halte mich auf den Wegen, im Gegensatz zu vielen anderen, die die Zäune einfach übersteigen. Ich klettere auf einem Pfad hinunter und gehe oben auf dem Steindamm entlang dorthin, wo ich oberhalb des Baggers einen Ausgang aus der Düne sehe. Zum Schutz der Dünen ist dieser Steindamm hier gebaut worden, er scheint mir ganz neu zu sein. Außerdem gibt es unten am Strand wieder diese Reihen von Baumstämmen, wie wir sie weiter hinten gestern entdeckt haben.
Auf dem Weg aus dem Wald kommen eine Frau und ein kleiner Junge. Buddy rennt voraus, ich sehe, dass hinter dem Gebüsch noch ein Wesen sein muss, ein kleiner Rauhaardackel. Buddy hat viel Respekt vor kleinen Hunden. Ich teile mit: Il est gentil – mein Standardsatz, dennoch nimmt die Frau das Hundchen auf den Arm. Ihr Problem. Kleine Hunde sind oft gemein, aber Buddy lässt das eigentlich kalt.
Der kleine Junge fragt mich etwas, ich verstehe nichts und sage es auch. „Je ne comprends pas“. Er sagt wieder was. Telepathie ist in so einem Fall wichtig. Seinem Gesicht sehe ich an: Er will wissen, wie ich da hineingekommen sei. Denn ich stehe an einer Metallbarriere. Der Weg, den Frau, Junge und Hund gekommen waren, ist zum Strand hin gesperrt, vermutlich wegen dieser Aktion, die der Bagger dort unten veranstaltet, und zwar so total, dass es kein Durchkommen gibt. Das Metalltor lässt keine Lücke frei. Leider auch nicht, wenn man innerhalb ist. Da ich ja über die Düne hundert Meter weiter drüben gekommen bin, stehe ich nun auf der anderen Seite der Barriere und kann nicht hinüber. Durchklettern kann ich nicht, die waagrechten Stangen lassen nicht genug Raum. Drüber komme ich auch nicht, die Sache ist mir zu hoch. Ich mache zum Knaben hin eine ausladende Bewegung in die Richtung, aus der ich gekommen bin und sage: „Là“. Die Frau hat das schon begriffen. Ich sei wohl den Weg dort hinauf und dann hinausgegangen. Sie lacht ob meines Unbehagens. Ich sage: „Je pense que j'ai un problème.“ Ich glaube, ich habe ein Problem. Habe ich. Aber na ja, man muss manchmal von seinen Prinzipien abweichen. Ich gehe ein paar Meter zurück und in den Sand, klettere dann über den Draht, der verhindern soll, dass ich dort überhaupt lande. Frau, Junge und Dackel erklimmen inzwischen die Düne, vermutlich möchten sie es nun auch ausprobieren.
Wir laufen durch den Wald zurück zum Sträßchen, an dem das Auto steht und schaffen es sogar, auf der anderen Seite der Müllcontainer anzukommen. Das war fast punktgenau, nur müssen wir am Müll vorbei – und da riecht es schon immer sehr interessant. Das ein oder andere kann auch mal heruntergefallen sein. Der Hund verwandelt sich angesichts von Müllcontainern, Eimern und ähnlichem in eine Straßenköter erster Güte, seine ganze Körperhaltung verändert sich, er ist kein zivilisierter, anständiger, gut erzogener Hund aus gutem Hause mehr. Ich schimpfe und versuche, ihn bei Fuß gehen zu lassen. Erst als ein Wohnmobil die Straße herauf kommt, bequemt er sich zu gehorchen. Autos, das weiß er, sollte er an meiner Seite und sitzend abwarten. Da er vor ihnen netterweise großen Respekt hat, klappt das auch ganz gut.
Zu Hause trinke ich erste einmal einen Kaffee, beschließe dann aber doch zu kochen. Heute gibt es die zweite Portion der Jakobsmuscheln. Ich habe sie neulich einfach eingefroren. Drei Essen würde es geben, heute also die zweite Mahlzeit. Wieder mache ich sie mit Gemüse im Backofen. Dieser kleine Backofen ist schon ganz praktisch, finde ich. Heute bleibt der Muscadet im Kühlschrank. Ich halte mich lieber an den Hustensaft.

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