Es regnet. Nicht gerade in Strömen, aber auch die einzelnen Tropfen sind unangenehm kalt. Da macht die Morgenrunde keinen Spaß. Beim Eingang in die Dünen treffen wir die Dame mit den beiden Hunden – nein, genauer gesagt, Buddy trifft die beiden Hunde, ein schwarzer wuscheliger Hund, sicher eine Rasse, aber keine, die ich benennen kann, und ein großer und etwas dicklicher Malamute, beide eindeutig Senioren. Wobei nicht immer klar ist: sind diese Wolfsverwandten dick wegen ihres Fells oder sind sie es wirklich? Diese Malamutes sind kräftige Hunde. Dennoch sind wohl die meisten als Haustier gehaltenen übergewichtig. Das ist einfach kein Hund, der im Haus gehalten werden kann. Es ist ein Arbeitshund. Immerhin hat er Wolfsblut. Und ein Wolf in der Küche ist eine seltsame Vorstellung. Dieses Wolfsblut läuft wenigstens ohne Leine, ob er gehorcht, ist eine andere Frage und nicht mein Problem.
Das Hundetreffen verläuft friedlich. Drei ältere Herrschaften treffen aufeinander und tauschen ihre Erfahrungen aus, dann wird weitergegangen, zwei in die eine, einer – hoffentlich – in die andere Richtung, hinter mir her. Eine der Situationen, in die ich mich nicht einmische, im Gegensatz zu den Herrchen und Frauchen anderer Hunde. Auch dieses Frauchen ruft irgendetwas, sie hängt aber am Mobiltelefon, kann damit gar nicht viel machen. Außerdem haben die Hunde sich schon einmal getroffen, da muss man sich nicht einmischen. Die meisten Franzosen sehen das auch so, zumindest wenn sie größere Hunde haben. Besitzer kleiner Hunde geraten immer mal in Panik. Wenn ich ihnen dann mitteile, dass Buddy Respekt vor kleinen Hunden hat, kriege ich entweder zu hören: Mein Kleiner wurde schon mal von einem Schäferhund gebissen und hat seither Angst (Hund oder Herrchen?) oder auch: Aber der Kleine beißt… Ok, da denke ich dann: Das ist deren Problem – und ich weiß, dass mein Hund auch ängstliche Beißer beruhigt. Keine Ahnung warum, aber es ist so.
Ich biege in meinen Weg ein und erwarte, dass mein Hund folgt. Was er erst einmal nicht tut. Mir fällt das erst nach einigen Metern auf, als ich schon fast bei der Mühle bin. Doch als ich mich umdrehe, sehe ich Ohren über die Kuppe schlappern und ein krummbeiniges Etwas, das aussieht wie mein Hund, kommt im gemütlichen Kanter den Weg herunter. Ich kümmere mich nicht weiter um ihn und gehe weiter. Ich liebe es, dass ich mich auf meinen Hund verlassen kann. In den ersten Jahren war das sehr problematisch. Wenn er auf Hundefreunde traf, war er völlig aus dem Häuschen und vergaß, dass er eigentlich zu mir gehörte. Er folgte jedem Hund und war nicht zu überreden, zu mir zurückzukehren. Nicht nur einmal musste mir mein Hund zurückgebracht werden, wenn es mir nicht gelang, so schnell zu folgen. Natürlich nahm ich ihn normalerweise an die Leine, wenn ich einen Hund sah, doch manchmal passierte es halt, dass er den anderen Hund zuerst sah. Außerdem wollte ich ja, dass er Hunde traf – schon damals – doch irgendwann sollte er dann doch wieder mit mir mitkommen. Also Leine – wenn ich ihn erwischte.
Doch seit vielen Jahren klappt das nun schon prima. Er kann seine Hundefreunde treffen – und er hält jeden Hund für seinen Freund – und guten Tag sagen, eine Zeitlang das mit ihnen tun, was Hunde so tun – wir würden es „tratschen“ nennen, man könnte es auch als gemeinsames Zeitunglesen bezeichnen, außerdem hinterlässt man der Nachwelt deutliche Duftstoffe, um zu zeigen, wer hiergewesen war. So haben andere Hunde dann auch wieder einige Artikel zu lesen. Wenn das erledigt ist – vielleicht je nach Hund noch ein paar Minuten „Fang mich“ gespielt wurde - wird sich getrennt und jeder folgt seinem Herrn. Außer der andere ist ein Jugendlicher. Dann wird es schwieriger, denn der muss erst einmal überzeugt werden, den neuen Freund wieder zu verlassen und dem eigenen Herrchen zu folgen. Ich schicke in dem Fall dann meist Buddy mit dem Jungen zurück. Manchmal erinnern sie sich dann: Ach so, da muss ich ja bleiben – und Buddy kommt zurück, manchmal kommen beide zurück, und das Spiel muss wiederholt werden. Amüsant ist dann die Reaktion der Herrchen, die oft keine Erfahrung haben. Sie verstehen gar nicht warum nun ihr Hundchen so begeistert nicht zu ihnen kommt. Erfahrene Hundebesitzer sind da unkomplizierter. Sie warten eben, bis der Anschwung von Energie vorbei ist und disziplinieren dann den Jungspund, damit er beim nächsten Mal besser gehorcht. Ich bin aber auch schon zurückgelaufen, um den zweiten Hund wieder loszuwerden, denn irgendwie reicht mir einer. Nun ja, ich kenne das ja wie gesagt. Aber warum soll es anderen besser gehen als mir in den Anfangsjahren? Wenn auch der Grund damals nicht so sehr der jugendliche Überschwang war, sondern die Zeit, die Buddy in der Tierschutzbetreuungsstelle in einem Rudel verbrachte, von wo er zu mir kam. Das war die wohl glücklichste Zeit in seinem damals sehr jungen Leben, das ihm schon einige Traumata beschert hatte. Und deshalb liebt mein Hund alle Hunde. Was ja schön ist. Ich gönne es ihm.
„Le gois“, die Passage durchs Meer, ist noch überflutet, als ich beschließe, einen Ausflug aufs Festland zu machen. Ich muss doch endlich wissen, ob es nun hier Deiche gibt oder nicht. Denn das Marschland sieht aus wie an der Nordseeküste, nur die Deiche scheinen zu fehlen. Doch selbst Windräder haben sich angesiedelt, sodass, wäre da nicht der völlig andere Baustil der Häuser, der Höfe im Schutz der windzerzausten Kiefern, man meinen könnte, man wäre in Nordfriesland oder auch in Niedersachsen an der Küste. Die vielen grauen Esel, ebenfalls windzerzaust, zeugen auch davon, dass man woanders ist. In Deutschland würde man eher edle Pferde und friesische Kühe auf den Weiden finden, hier sind es neben den Eseln Ziegen und Schafe, manchmal auch ein zotteliges und sehr struppiges Pony dazwischen, die auf den Inseln im überfluteten Marschland, das von Entwässerungsgräben durchzogen ist, ihr karges Dasein fristen – oft allein, für Herdentiere sicher nicht sehr schön.
Also fahre ich über die Brücke und finde die Aussicht phänomenal. Das Wasser sinkt bereits, und die Sandbänke zeichnen sich ab, insgesamt ein faszinierendes Bild der Meeresoberfläche. Leider kann man auf der Brücke nicht anhalten, um das zu fotografieren.
Ich fahre zuerst einmal nach Formentine zum Gare maritime, wo die Schiffe zur Ile d’Yeu abgehen. Dort ist gerade eine Fähre angekommen. Erstaunlich, wie viele Leute doch um diese Jahreszeit die Überfahrt gemacht haben. Ich parke das Auto illegal in einer Kurzparkzone, wo noch einige Autos stehen, die auch nicht nur Gepäck ausladen, hole Buddy aus dem Käfig und wandere zur Abfertigungshalle. Ich möchte wissen, ob ich nicht doch einmal zu dieser richtigen Insel der Vendèe gelangen kann. L’Ile d’Yeu ist 20 km vom Festland entfernt und damit die am weitesten entfernte Insel Frankreichs im Atlantik. Das wäre schon mal hübsch – viele reiche Pariser besitzen Häuser dort, aber wo tun sie das nicht. Doch die Überfahrt kostet 35 Euro Aller-Retour der Mensch und dann noch mal fast 12 Euro der Hund, dazu kommen Parkgebühren, auch wenn man jetzt im Winter etwas weiter weg sicher das Auto loswürde, ohne dass dies auch noch mal ein Vermögen kostet. Man muss die Liebe zu Inseln nicht übertreiben, beschließe ich. Man kann die Idee ja mal für einen längeren Aufenthalt im Kopf behalten. Sofern man das dann bezahlen kann.
Ich fahre weiter nach Beauvoir-sur-Mer, von wo es zu „le gois“ vom Festland her geht, hier war ich bei der Ankunft hinübergefahren. Jetzt fahre ich weiter, weil ich eigentlich zu „Le Port“ will, wo einer der Kanäle ins Meer mündet und Kutter und Jachten sein müssten, schieße jedoch an der Abzweigung vorbei und lande in Bouin. Auch das hat diese Gegend mit der in Nordeutschland gemeinsam: Man kann „Steeple Chase“ spielen. Der Ursprung dieses Pferderennens basiert darauf, dass man einen Kirchturm oder sonst ein markantes Landzeichen anpeilt und über Stock, Stein, Kanäle und Zäune gerade aus darauf zuhält. Heute ist es noch immer ein Hindernissrennen, aber vielleicht weniger rustikal.
In diesem flachen Land sieht man die Kirchtürme selbst bei diesigem Wetter meilenweit und kann darauf zuhalten. Das hatte ich schon bei der Herfahrt gemacht, als ich eine Umleitung fahren musste. Dumm ist nur, dass die Kirchtürme alle gleich aussehen, ein einziger Architekt muss hier einen Massenauftrag gehabt haben. Damit kann man nie sicher sein, ob man den richtigen Ort erwischt.
In Bouin biege ich sofort nach links, sehr zur Freude meines Hintermannes, der endlich Gas geben kann, den „Zero Tolerance“ des Präsidenten bedeutet nicht, dass man innerhalb der Orte nur 50 km/h fährt, man fährt nur außerhalb nicht schneller. Ich fahre eine sich durch das Marschland schlängelnde Straße vor ans Wasser – und sehe einen Deich. Es gibt ihn also doch. Er ist nur viel niedriger als ich es von Deutschland kenne – und viel hässlicher. Allerdings bin ich in einem Gebiet mit „ostréiculture“ – Austernzucht. Auf Google-Earth sehe ich später, dass der Deich eine Bucht abschirmt, in der die Zucht stattfindet. Es wird also ein Stück Meer abgeschnitten – was im Marschland nun nicht ganz ungewöhnlich ist – und dort findet über viele Hektar die Austernzucht statt. Schön ist es nicht, was hier zu sehen ist. Ich denke, die Leute, die nachher teuer für ihre Austern bezahlen, würden sich wundern, wie einfach und chaotisch hier die Wellblechhütten die Gegend verschändeln und alles eher wie ein Industriegebiet aussieht. Ist nicht die erste Austernzucht, die ich sehe, aber eindeutig neben Marennes das größte Gebiet, das ich kenne. Marennes gegenüber der Ile d’Oléron ist noch größer. Mit Romantik hat das nichts mehr zu tun – die Austernzuchten, die ich von der Bretagne her kenne, wo mit niederen Booten über das flache Meer gefahren wird, sind da wesentlich attraktiver, schon weil die Zuchtgebiete immer schöne Muster im Wasser geben.
Ich fahre die „Route de huitres“, die Austernroute, parallel zum Deich und komme an die Mündung, die ich eigentlich gleich aufsuchen wollte. Dort steigen wir kurz aus und gehen „übern Deich“, der aber ein Stein- und Betonwall ist. Er ist ja auch wirklich ein Damm, der diesen mit Kanälen durchzogenen Teil der Austernzüchter vom Meer trennt, und kein Schutz des Landes vor dem Wasser.
Die Mündung des kleinen Kanals ist voller Masten. Fischkutter sind es hauptsächlich, ob noch Jachten dabei sind, kann ich vor lauter Stäben gar nicht richtig erkennen. Aber in der Ferne sehe ich „le gois“ und Autos, die durchs Meer fahren. Sie scheint frei zu sein!
Inzwischen regnet es richtig, und es macht keinen großen Spaß, länger draußen zu sein, selbst Buddy springt wieder gerne in seinen Käfig. Wir fahren über die kleine Straße zur Passage und parken noch einmal auf dem Parkplatz an der Zufahrt, gehen dort noch ein Stück auf dem Deich, auch hier ein Gebilde aus Steinen und nicht sehr hoch.
Dann fahren wir auf „le gois“. Auf der Anzeigetafel stand: Basse mer 17:30 – es war nun etwa 15:30, also noch zwei Stunden bis Niedrigwasser. Vor Jahren bin ich einmal auf der Inselseite gestanden und habe gewartet, bis das Wasser abgelaufen war, bin – mit anderen, Einheimischen – losgefahren, als das Wasser noch teilweise auf der Straße stand. Wenn man sicher ist, dass das Wasser abläuft, kann man das machen – bei auflaufendem Wasser sollte man das tunlichst meiden, denke ich – ich vermute, auch die Einheimischen machen es dann nicht. Jetzt steht das Wasser auf der linken Seite noch an der Straße, die rechte ist frei, dort parken bereits Autos mit Autonummer 85 – Vendée – auf dem Sand, Einheimische, die im Watt wie gewohnt Muscheln ausbuddeln. Auch jetzt kann man sicher sein, das Wasser läuft ab – ich weiß nicht, ob ich rüberfahren würde, wenn ich wüsste, es wäre auflaufendes Wasser. Als ich ankam, war zwar schon auflaufendes Wasser, aber es war noch nicht zu sehen. Wenn es neben der Straße steht, kann es jederzeit herüberschwappen, auch wenn es windstill ist. Flut kann sehr schnell sein. Wenn es auf gleicher Höhe neben der Straße steht, ist es besser, es wird weniger als mehr.
Die hölzernen Gerüste an der Straße werden wohl jedes Jahr beansprucht, weil eben Leute es nicht schaffen, vor dem Wasser auf die andere Seite zu kommen. Und durchaus nicht nur zu Fuß, wie Fotos von absaufenen Autos und winkenden Menschen auf den Holzkonstruktionen beweisen. Auch ertrinken immer mal wieder Leute hier. Das dringt nicht bis nach Deutschland durch, aber hier weiß man es und erzählt es auch weiter. Die Tide ist ein Phänomen, das faszinierend ist, das aber auch höchsten Respekt abverlangt. Man sollte wissen, wie sie funktioniert, wenn man sich mit ihr anlegt. Meine ersten Erfahrungen stammen zwar „nur“ von der Nordsee, aber immerhin waren Ebbe und Flut im Sommer selbstverständlich, auch dort richtete man seinen Tagesablauf und seine Unternehmungen nach ihr. Als ich in die Bretagne kam, mit einem Tidenhub von bis zu 12 m, wusste ich also bereits mit ihr umzugehen, im Gegensatz zu meiner Freundin, die sie, als sie mich besuchte, zum ersten Mal erlebte, denn sie kannte bis dahin nur das Mittelmeer mit minimaler Tide. Als ich ihre Reaktion sah, wurde mir bewusst, wie faszinierend diese Selbstverständlichkeit tatsächlich ist.
In der Bretagne lernte ich dann noch die unterschiedlichen Tiden, die durch sogenannte Koeffizienten berechnet werden, kennen. Diese Unterschiede sind vom Stand von Mond und Sonne zueinander abhängig. Springflut ist immer kurz nach dem Neumond oder kurz nach dem Vollmond, wenn die Kräfte beider Himmelskörper durch die Konjunktion verstärkt auf das Meer wirken. Und dann gibt es noch im Frühjahr und Herbst um die Tages- und Nachtgleiche „grande marée“, wenn das Wasser am höchsten steigt und bei Ebbe am weitesten zurückgeht.
Einheimische, die mit dem Meer leben, wissen genau, wann das Wasser wo ist – und mit Hilfe des Tidenkalenders können sie einschätzen, wann sie einen Weg über den Meeresboden gefahrlos begehen können. Menschen, die das Meer nicht kennen, können sich gewaltig verschätzen. Und genau das ist die Gefahr hier an „le gois“.
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