Samstag, 25. Dezember 2010

1. Weihnachtsfeiertag


Endlich weiß ich, warum sich die Franzosen so schwer damit tun, Fremdsprachen zu erlernen. Es ist für sie so sehr mühsam, als Kind die eigene zu erlernen, das reicht für ein ganzes Leben.
Diese weise Erkenntnis ereilte mich, als ich gestern im Radio kleine Kinder „Joyeux Noël“ sagen hörte. Es war so schwer für sie auszusprechen, dass es ein Genuss war. Es war sehr niedlich anzuhören. Aber natürlich ist es immer niedlich, wenn kleine Kinder sprechen, auch deutsche kleine Kinder haben ihre Probleme mit der Aussprache. Doch französisch auszusprechen, wenn man noch nicht alle Muskeln im Mund entwickelt hat, die es einem ermöglichen, klangvolle Vokale und elegante Nasale zu intonieren, hat einen besonderen Reiz. Wenn Erwachsene, deren Muttersprache alles außer Französisch ist, es versuchen, klingt es meist grausam, vor allem wenn diese Erwachsenen englischer Abstammung sind, ich vermute jedoch, für französische Ohren klingen auch noch andere fremdsprachliche Akzente schrecklich, darunter auch der Deutsche, wenngleich dieser durchaus als ganz legaler französischer Akzent im Elsass zu finden ist.
Doch nach diesen kleinen Franzosen im Radio war für mich klar: Wenn man diese Sprache zu sprechen gelernt hat, mag man nicht noch eine lernen.
Für mich ist es auch schwer, diese Sprache auszusprechen. In jungen Jahren habe ich behauptet, mein Mund sei nur fürs Englische gebaut. Doch seit ich Engländer Französisch sprechen hörte, denke ich, ich bin vergleichsweise begabt fürs Französische. Leider fehlt mir immer noch die Grundlage der Grammatik. Meine Aussprache dessen, was ich zu sagen in der Lage bin, scheint jedoch immerhin mal verständlich geworden zu sein. Das ist doch sehr erfreulich und aufbauend.

Heute nun ist der erste Weihnachtsfeiertag. Hier wie in Deutschland Tag der Familie. Ich weiß immer noch nicht genau, wann Père Noël eigentlich erwartet wird – in den Nachrichten heute Morgen wurde verkündet, er sei „passé“. „Père Noël est passé“, meinte die Nachrichtensprecherin bestimmt. Ich nehme an, sie war sich da sicher. Ach – interessant, denn auch das weiß Wikipedia, wenn man dann einfach mal nachliest: Der Vater Weihnacht trägt einen Korb ähnlich dem bei der Weinernte. Gut – nur wann er erscheint, wird nicht erklärt. Ich ahne aber, dass er eher über Nacht kommt, nicht am Abend des 24. Man möge mich eines Besseren belehren.  
Die Sonne scheint, als ich aufstehe. Bei der Vormittagsrunde, die eigentlich eher mittags stattfindet, denn irgendwie schaffe ich es nicht aus dem Bett, komme ich sogar ins Schwitzen. Die Runde nach Westen zu dem Strandzugang, den wir gestern per Auto aufgesucht hatten, ist eine sehr schöne, weil sie im Windschatten der Dünen stattfindet. Der Wind ist sehr kalt, weshalb ich gerne geschützt laufe. Auf dem Rückweg höre ich dann Brüllen, drehe mich um und sehe einen schwarzen Blitz über die Düne jagen – und ein kleinerer mit Schlappohren auf ihn zu. Buddy war mal wieder in seinem Element: Ein großer Freund, der mit ihm rennen will.
Der Mann, der dem schwarzen Ungeheuer gehört, brüllt, was den Hund nicht interessiert. Ich brülle nicht, da ich weiß, mein Untier kommt wieder, wenn er den Schwarzen begrüßt hat. Als die beiden Hunde vergnügt zu mir gerannt kommen, teile ich dem fremden Hund mit, er würde erwartet und befehle Buddy, ihn zu seinem Herrn zu bringen. Die beiden Hunde jagen davon, kommen aber nach einer großen Runde wieder. Der schwarze Hund denkt gar nicht dran, zum Herren zurückzukehren. Der brüllt und pfeift weiter. Aber irgendwann nach einigen Runden Fangen spielen rennt Buddy zu mir, und der Schwarze folgt seinem Meister. Warum also so viel brüllen? Sie spielen Fangen, und dann räumen sie sich schon von selbst auf. Ich bin noch nie mit zwei Hunden nach Hause gegangen. Irgendwann erinnern sie sich dann doch, dass da noch jemand war, der zu ihnen gehört. Und Buddy hat es gut getan, ein bisschen über die Dünen zu jagen.
Mittags dann fahre ich nach Noirmoutier. Die größte Stadt der Insel heißt wie die Insel. Oder die Insel heißt wie die Stadt. Kann man sich aussuchen. Ein nettes Städtchen mit weißen Schachtelhäusern, wie sie hier in der Vendée üblich sind. Sie sehen aus wie willkürlich aus weißen Pappschachteln zusammengestellt, jeder Raum in einer anderen Größe und Form. Manchmal auch mit Türmchen. An der Küste entlang stehen dann noch alten Windmühlen ohne Flügel in den Dünen, die ebenfalls zum Wohnen ausgebaut sind. Nett wie in einer Puppenstube sieht das alles aus. In Noirmoutier sind die Häuser größtenteils geschlossen, die Fensterläden zugeklappt – Ferienhäuser, die nur im Sommer genutzt sind. Aber einige Häuser sind offen. Ob sie dauerhaft bewohnt sind oder nur jetzt über Weihnachten, werde ich erst nach Neujahr sicher sagen können. Ganz leer wird die Insel jedoch nie sein, es gibt schon Leute, die hier wohnen, so ist es nicht. Ich gehe davon aus, jeder kennt jede – und im Sommer ist alles fürchterlich überlaufen. Das beweist schon die Straßenführung, die noch nicht sehr alt ist. Die Logistik, die Touristenmassen auf und von der Insel zu leiten erforderte einiges. Vierspurige Straßen und ein Geflecht um die Stadt Noirmoutier herum – für 2 Monate im Jahr. 
Ich laufe durch eine menschenleere Häuserschlucht mit geschlossenen Fenstern hinaus ins Marais, das Moor - Marschland. Die ganze Insel ist hier durchzogen von Kanälen und Teichen, den alten Salinen, teilweise dienen sie auch den Austerfischern als Lager. Ich gehe auf einem Damm entlang. Die Häuser sind hier teilweise recht imposant, man hat wohl Geld. Manche stehen direkt an einem Kanal, mit Bootsanleger am Haus. Eines gefällt mir besonders, weil wirklich traumhaft liegt und größer als die anderen ist. Dann entdecke ich, es ist eine Diskothek. Ok – das muss dann doch nicht sein.
Wenige Meter weiter wieder ein größeres Anwesen, dieses Mal ein Hotel, das aber geschlossen ist. Ich gehe zurück in die Stadt und auf die Kirche zu. Die Straßen sind inzwischen belebter, offensichtlich hat man das opulente Mittagsmahl beendet und läuft sich nun die Kalorien ab. Aus irgendeinem Grund gehen Franzosen sonntags nachmittags und auch heute, am ersten Weihnachtstag, immer in generationsübergreifenden Gruppen. Aber irgendwie machen die Deutschen auf der Schwäbischen Alb das auch. Der Mensch ist ein Herdentier – man geht in Gruppe. Doch es gibt einen wesentlichen Unterschied: In Deutschland läuft frau mit flachen Schuhen in Freizeitkleidung, in Frankreich mit Absatz und Designerkleid und auch mal dem feine Pelz darüber. Keine Dame, die was auf sich hält, würde am Sonntag in Jeans und Turnschuhen durch den Ort gehen, nicht einmal durch das Gelände. Selbst in der Camarque und auf den Felsen der Bretagne habe ich Highheels gesehen. Die französische Dame geht stilvoll und leidet.
Doch auch ich habe mich im Hinblick darauf, dass ich durch eine Stadt gehen will, nicht ganz wie eine Vogelscheuche gekleidet und ein bisschen auf mein Äußeres geachtet. Ich finde, ich sehe anständig aus – nur bringt mich niemand dazu, Schuhe mit Absätzen zu tragen und mein Designerkleid habe ich gar nicht mitgebracht. An meinen Füßen befinden sich meine Laufschuhe, weiß und nicht mehr ganz sauber, aber ich trage eine Hose in grau – dass es eine Sporthose ist, fällt nicht auf. Und statt dickem Pullover mit Kapuze und dickem Schal trage ich meine schwarze Jacke mit dickem Schal, nur das Stirnband ist wie immer, denn meine Ohren brauchen Wärme und keinen Chic.
Ich bin froh, dass diese Familienverbände erst jetzt aus ihren Löchern gekrochen kommen – ich bin wieder beim Auto und kann fliehen. Die Kirche sehe ich mir an, wenn wieder Ruhe ist – auch das Fort in dem Kiefernwald, den ich entdecke, weil ich nicht direkt aus dem Ort heraus fahre, werde ich später anschauen, wenn keine Völkerwanderung dorthin unterwegs ist.
Ich fahre heim und koche mir leckere Jakobsmuscheln mit Gemüse auf Tagliatelle. Ich erfinde das Gericht neu, in dem ich es in der Kasserolle im Backofen zubereite. Vielleicht wäre es manchmal sinnvoll, nachzulesen, wie lange so etwas eigentlich bei welcher Hitze gegart wird – aber es schmeckte lecker, also kann ich es nicht falsch gemacht haben. Der Muscadet wird dazu auch geöffnet, denn die Soße brauchte einen Schuss davon – und ein Gläschen bei Essen ist nicht verkehrt.

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