Dienstag, 28. Dezember 2010

Zwischen den Jahren Tag 2


2. Tag der Erkältung – mir geht es nicht gut, aber na ja, da muss man durch. Morgendlicher Lauf im Nebel mit Ian Rankin in den Ohren, dann erst mal Ruhe. Nachmittags beschließe ich, es gemütlich anzugehen. Ich fahre in den Wald hinter Noirmoutier, den ich am Samstag schon gesehen hatte. Dort gibt es einen hübschen Strand mit diesen kleinen Badehütten auf Stelzen, die inzwischen schon richtig als Sehenswürdigkeit gelten. Ich zitiere aus einem Heft, dass sich mit der Schönheit der Insel befasst – im künstlerischen Sinne: Diese kleinen Weingummi-farbenen Häuschen geben den Stränden ihren Charme und dienen als eine Erinnerung an die gloriosen Zeiten des Badens im Meer während der „Belle Epoque“. Man erinnere sich an gestreifte Badenanzüge, die bis zu den Waden reichen und Frauen in Röcken mit Rüschen. In anderen Orten seien diese Häuschen verschwunden, aber auf Noirmoutier sorgen die Eigentümer der Hütten dafür, dass ihre Strandschätze nicht verschwinden.
Als ich aus dem Auto aussteige, fällt mir ein alter Mann auf, der mit einer schrägen Bommelmütze, die irgendwo zwischen Weihnachtsmann und Kaspar angesiedelt ist, hin und her schluft. Da kommt er doch tatsächlich auf mich zu und spricht mich an. Ich habe keine Ahnung, was er will. Es ist schon schwierig, französisch überhaupt zu verstehen, aber alte Männer zu verstehen kann sogar auf Schwäbisch Probleme bereiten. Da ich höflich erzogen bin, teile ich ihm mit, dass ich nichts verstehe. Er meint, ob ich Deutsche sei. Klar, die Autonummer auf meinem Auto ist nicht zu übersehen. Er fragt noch mal mit einem Schwall von Worten irgendwas, doch dann dringt zu mir durch, er will Geld von mir – 30 Euro. Klar, billig ist das Land nicht, auch nicht beim Betteln. Eine Bar hat zudem auch noch geöffnet. Und die schaut dem Alten aus den Augen und dem verquollenen Gesicht. Ich werde ungehalten, teile ihm mit, das sei sein Problem und will an ihm vorbei, er kommt immer näher heran, fängt an zu flüstern und sabbert vor sich hin. Alt ist relativ, er ist vermutlich nicht älter als ich, vielleicht sogar jünger. In meinem momentanen Zustand muss ich aufpassen, mich nicht zu übergeben. Es gelingt mir, weiterzugehen und etwas Würde zu bewahren, denn jetzt entnehme ich seinen Worten auch noch anzügliches, bin aber nicht ganz sicher, was er eigentlich sagt. Vermutlich auch besser so. Ausgerechnet jetzt kümmert sich mein Hund um einen Baumstamm oben im Wald – allerdings hätte auch seine Anwesenheit an meiner Seite nichts genutzt. Man hat in diesem Land keine Angst vor Hunden. Und ich bin sicher, der meine hätte eher mit dem Schwanz gewedelt als geknurrt. Ich gehe zu einer jungen Frau und bitte sie, mir zu helfen – der Alte schlappt davon. Die junge Frau ist etwas irritiert, aber das ist mir für den Moment egal. So etwas passiert natürlich nur, wenn man ohnehin nicht so ganz in Ordnung ist. Denn nur dann kann man diese Situationen nicht locker abfangen. Aber ok – ich sehe ihn zum Glück nicht wieder, vermutlich hat die Bar doch noch etwas für ihn zu trinken gehabt.

Etwas zitternd laufe ich mit dem Hund an der Leine auf der Uferpromenade entlang und finde es schön hier. Ich gehe bis zum Ende der kleinen Bucht, an dem auf einem Felsenchaos ein paar dunkle Bäume stehen. Die ganze Atmosphäre ist sehr gespenstisch, diese dunklen Felsen, die schwarzen Bäume, das graue Meer. Auf der anderen Seite des Strandes führt ein Steg ins Wasser. Ich beschließe, diesen noch zu erforschen und gehe zurück. Zuerst führt der Weg wieder durch diesen schwarzen Kiefernwald. Wäre ich allein, würde ich Geister sehen, doch es sind außer mir noch einige Leute unterwegs, unter anderem eine Mehrgenerationengruppe mit zwei kleinen Hunden, von denen einer sich mit Buddy anlegt, was etwas laut wird. Aber offensichtlich scheint er das öfter zu machen, denn die Menschen, zu denen der Dackel gehört, regen sich nicht auf, als Buddy sich wehrt. Die Kinder jedenfalls finden Buddy nett.

Warum machen sich eigentlich ältere Herren gerne so sehr zum Affen? Als ich den Weg entlang gehe, sehe ich das Paar schon von weitem. Er lehnt in lockerer Machopose gegen einen Felsen mit dem Rücken zum Meer, sie probiert das Weihnachtsgeschenk, eine kompakte Kamera, aus – natürlich ohne Sucher, nur mit Display. Für den Aufwand, der für dieses Foto betrieben wird, wird das Ergebnis lächerlich sein, denn die Lichtverhältnisse lassen kein gutes Foto ohne Blitz zu. Und einen Blitz sehe ich nicht. Aber ok, ein Spielzeug muss man kennenlernen. Der Mann hat sein blondes, langbeiniges Spielzeug schon kennengelernt, davon kann ich ausgehen. Er ist grauhaarig und durchaus distinguiert, auf eine locker-sportliche Art, ich schätze so um die 50, auch wenn das bei dem sportlichen Typ schwer zu schätzen ist. Er könnte direkt aus einem Modekatalog gesprungen sein, Männer werden da ja gerne in die Jahre gekommen genommen. Das weibliche Pendent ist das übliche, das sich ein in die Jahre gekommener distinguierter Herr als Austausch für das ebenfalls in die Jahre gekommene Mutter seiner Kinder anschafft, um seine schwindenden Hormone in Aktion zu halten. Die langen blonden Haare werde gekonnt geworfen, vom Gesicht ist nicht viel zu sehen, das ist auch nebensächlich, wichtiger ist, was sich in dem Lederanzug verbirgt. Ich gehe an den beiden vorbei und mir verschlägt es den Atem – leider habe ich keinen Schnupfen, meine Bronchien schreien auf ob der Duftstoffe, die sich in ihnen verirren. Irgendwie muss unter den Weihnachtsgeschenken auch Parfüm gewesen sein, dessen großzügige Anwendung für die gesamte Bevölkerung Noirmoutiers gereicht hätte.

Ich gehe auf den Steg und atme erst einmal tief durch. Leider ist die Holzkonstruktion nach der Hälfte gesperrt. Dennoch, auch hier Erinnerungen an die Belle Epoque, allerdings in wärmeren Zeiten. Ich mache noch ein paar Fotos und gehe dann zurück.
Inzwischen ist das Paar auch auf dem Steg angekommen. Er lehnt lässig an der Balustrade, während sie wieder ihre Kamera auf ihn richtet. Nebel hatte sich inzwischen gebildet, sodass das Foto noch interessanter werden wird – Schwarzer Geist vor weißem Dunst. Während sie in Karikatur einer Profifotografin versucht, ihn abzulichten, greifen seine Hände immer wieder nach ihr. Sie entwindet sich ihm wie ein schwarzer Aal, er streckt seine Arme wie Tentakeln aus, um sie an sich zu ziehen. Sein Gesicht strahlt vor Verzücken, sein Kichern ist fast mädchenhaft – ihr Gesicht ist hinter Haaren und ihrem Kameradisplay versteckt. Der Tanz der beiden ist lächerlich. Er giert nach ihr, sie entzieht sich ihm in schlangenhafter Bewegung. Ich gehe schnell an ihnen vorbei.
Leider vergesse ich, den Atem anzuhalten. Der Schwall ihres Parfüms zieht bis zur Bretagne gegenüber hinüber. Arme Seevögel. Arme Fische.
Einkaufen bei SuperU auf dem Weg zurück. Obst hauptsächlich. Ein Vorteil hat es, wenn man sich nicht so wohl fühlt: Man hat nicht Lust, diese unzähligen Leckereien zu kaufen, die hier angeboten werden. Diese Gefahr ist in den französischen Supermärkten ungleich größer als in Deutschland. Doch ich nehme mir vor, bis Silvester wieder so fit zu sein, dass ich mir etwas wirklich Besonderes kochen kann. Heute würde es nur einfach Karotten mit Ingwer geben. Ingwer ist schon deshalb gut, weil er gegen die Erkältung kämpft.

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